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Ein Opus maximus des Mülheimer Duos Erik Mälzner
& Jürgen Richter, in der gewohnt unverwechselbaren Kombination
von Text & Ton. Den "grauen" Faden, der das Musique concrète-Triple
zusammen hält, kann ich allerdings eher spüren als greifen.
Ziffernblätter signalisieren verrinnende Zeit, den Lauf der Dinge.
Dass O. T. für Leo Navratils Gugging-Patienten Oswald Tschirtner
steht, dessen Zeichnungen die Einstürzenden Neubauten anregten,
ist eher unwahrscheinlich. 1/3 erzählt von einem geizigen, misanthropen
Altersheiminsassen im Beckett‘schen Endstadium und seiner lebenslangen
Obsession von einer "Sirene" in die er sich als Sechsjähriger
unsterblich "verliebt" hatte. Weder in der Ehefrau noch in
einer späteren englischen Geliebten kann er sie wiederfinden, nur
zersplittert in den Fotogesichtern von Schauspielerinnen wie Corinna
Harfouch, Dagmar Manzel, Charlotte Rampling oder im Timbre von Dagmar
Krause, Hermine, Marianne Faithfull, Nico, Meret Becker. Die Zeit vergeht.
Er steht stundenlang, tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang am
Fenster um sie wiederzusehen. To hear her again... Im Fernseher, im
Radio. Er sammelt Schallplatten. Vergessen kann er sie nicht, will es
auch nicht.... Die Fliegen setzen sich auf ihn... Die Biographie wechselt
zwischen dritter und erster Person, Deutsch und Englisch, einem Brief
des Namenlosen an die Geliebte, der schreibmaschinenklackernden Diagnose
eines Arztes, an die Angehörigen adressiert. Eine Amour fou? Ein
nicht gelebtes Leben? Zwischen Orakel und Bedeutung steht der Deuter.
2/3 geht dann, in der Form eines Sprechgesang-Interviews mit einer abwechselnd
sprachrhythmisch perkussiven und an frühklassische Sonaten für
Violine und Klavier gemahnenden oder algorithmisch vom Midi-Keyboard
gespulten musikalischen Untermalung, der Frage nach, warum Beethoven
nicht tanzen konnte. Die verteilten Stimmen von Annette Velske und Ulrike
Dommer räsonnieren über Taubheit und Tinnitus und ob Religion
eine Behinderung ist. In Sandalen durch den Matsch der Gedanken tapsend,
wird nachgelauscht, ob Glocken fragen, mahnen oder irritieren und wie
das Gehirn bestimmte wiederkehrende Pieptöne inmitten von Glockenläuten,
Hundegebell oder Krähenkrächzen verarbeitet. Glockenläuten?
... und was sagt mir das? Sie trösten einen mit Habe genug Kleingeld
und vertraue auf den, der das Papier in den Toiletten auffüllt
und die Straßenbeleuchtung im Auge hat aus der Fülle seines
Hirns heraus. Es steht in seiner Macht, mit dem neuen Morgen schon dein
Kleid zu wenden! Und während der taube Beethoven mit den Geschichten
einer taubstummen Konzertbesucherin und eines niedlichen Backfischleins
intermittiert und noch bevor die Musik samplingbarock anschwillt und
ausklingt, wird auch eine Antwort gefunden: Beethoven konnte nicht tanzen...
weil er musikalisch war ...
Grotesk.
Der Anklang, den das nerdige Interviewniveau hier bereits an den 10
vor 11-Ton Alexander Kluges stiftet, verstärkt sich bei 3/3 in
der Prosa des Porträts einer in Familienbanden gefangenen und zum
Verstummen gebrachten Komponistin, das Kluges Tenor der Lebensläufe,
Lernprozesse mit tödlichem Ausgang und Chronik der Gefühle
verehrend-parodistisch imitiert. Oder an was sonst erinnern Floskeln
wie ein sogenannter wechselseitiger sozialer und ökonomischer Verpflichtungszusammenhang
und Sätze wie: Sie mußte der Härte des Seins trotzen,
und ihre größte Tugend war, daß sie sich selbst treu
blieb... Sie hat keine wirkliche Chance gehabt, die Verhältnisse
zu ändern... Die blinde gewalttätige Tat, die fasziniert und
sogleich abstößt war kein Zustand, sondern hatte Anfang und
Ende, auch wenn das Ende schon ein neuer Anfang war. Korrektive emotionale
Erfahrung? Der Klangrahmen ist hier wieder so konkret wie bei 1/3, Verkehrsgeräusche,
Vogelstimmen, Schritte... Die Kluge-Connection wird freilich verwischt
durch den märchenhaften und theatralischen Tonfall, dem russischen
Akzent und durch die immer wieder dramatisch aufrauschende und in sich
kollidierende Elektroakustik. Die Befreiung erfolgt durch Mord. Mit
aufgesetzten Kopfhörern wurden sie erstickt aufgefunden. Wer nicht
hören will muss sterben? Die rein klangliche Umsetzung der dramatischen
und mörderischen Entwicklungen ist ein wahrer Höhepunkt in
Mälzner & Richters Schaffen und ihrer Suche nach Wurzeln des
nichtexistenten Zufalls. Die gewollt komische und betont groteske stimmliche
Theatralik überzeugt mich dagegen weniger. Allerdings endet die
Erzählung nach 40 Minuten und es bleiben noch gut 20 für ein
schaurig temperamentbolziges Scatnudel-goes-plemplem-Comeback der Witwe,
dem meine gegen Hohoho-Humor gerichtete Flak nicht gewachsen ist. GRAU-SAM.
rbd BAD ALCHEMY # 49, Germany
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Rockoper "Tommy" dekonstruiert und
ins "Revolution 9"-Gewand gesetzt.
Noch lange nicht haben wir durchschaut,
was Erik Mälzner
und Jürgen Richter mit dieser mäandernd-archaischen Trilogie,
die sie mit Hilfe von Michael Hinz, Ulrike Dommer, Annette Velske,
Elena und Alex Ivanov eingespielt haben, aussagen wollen. Jedenfalls
werden auf dem CD-Label jeweils ein „Tertil" einer
Uhr gezeigt. Es ist das Rätselhafte, Kryptische, Surreale, das
auch dieses NO EDITION-Werk auszeichnet und abhebt. Musikalisch beginnt
dies durchaus eingängig, eine Art Freeform-Variante
von Trans Europa Express, allerdings nicht aus dem Speisewagen der
1.Klasse sondern aus dem Maschinenraum. Dies geht über in die
erzählte Lebensgeschichte eines sich im Kreis schließenden
Lebens („Niemand beschäftigte sich mit ihm - mit dem Baby,
mit dem Greis. „Tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang-
wird als Mantra eingesetzt. Teil 2 ist eher doomig und wartet mit Sprechgesang
der melodischen und instrumentalbegleiteteten Art auf, während
Teil 3 spiralförmig
unter Einbeziehung aller Register expandiert, sich verliert.., inhaltlich
kein Resümee zulässt. Dem Minimalismus von NO EDITION in
Ehren haltend, würde den interessierten
Rezipienten eine Werkkommentierung des Hauses bei Zeiten freuen. Eine
der geheimnisvollsten Monumentalwerke der Rockmusik im allerweitesten
Sinne, hier ästhetisch, da anstrengend und so verschlüsselt
wie „Karneval" von Bela Hamvas. Entdecken Sie dieses Meisterwerk
für sich und lösen Sie
das Rätsel. Ich selbst muss dies noch 5-10 mal anhören -
es ist nahezu wie bei der Erschließung eines Philosophiebuches
- erst mal den „Stallgeruch" holen,
ehe Ockhamsches Rasiermesser oder Cartesische 4 Regeln zum Zuge kommen.
Der quantitative Output von EM und JR wird ohnehin nur von wenigen übertroffen,
nennen wir mal Merzbow als Benchmark. Insofern ist die „Graue
Reihe" fast schon eine Monthly Soap der avantgardistischen postmoderne,
des disziplinierten Bruitismus, der strukturierten Kakophonie. Unvergleichlich
allemal! Und wer kann dies von seinen Kunstwerken in der reizüberfluteten
Zeit des ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts
schon mit Fug und Recht behaupten'?
Das dosierte Leben # 48,
Germany
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